Kriegskinder – mein Vater

Den letzten Brief seiner Mutter hielt Onkel Otto in der Hand, als er im Lazarett in der Nähe von Charkiw (Ukraine) starb. Mit Bleistift schrieb er noch eine Nachricht darauf, bis heute hat sie niemand entziffern können.

Mein Vater, geb. 1931, wuchs in Bettorf, einem kleinen Weiler in der Nähe meines Heimatdorfes Friesenhagen auf. Der Krieg war für ihn selbst in weiter Ferne, seine Spuren hinterließ er jedoch auch in dieser Familie. Diese Spuren sollten sich viele Jahre später für mich als besonders wichtig und prägend erweisen.
Über diese Zeit zu sprechen, das fiel meinem Vater immer schwer. Besonders, wenn es um meinen Onkel Otto, in der Familie liebevoll „Männi“ genannt, ging, wallten die Gefühle in ihm auf.

Onkel Otto war „im Krieg geblieben“, wie es oft verharmlosend ausgedrückt wurde, aber ich verstand schon als Kind, dass das ganz und gar nichts Harmloses gewesen war. Erst später wurde mir kar, wie jung Männi gewesen war, wie wenig Leben ihm vergönnt war. Im Osten an der Front, in der Nähe von Charkiw war alles so schnell gegangen, dass es am Ende nicht einmal ein Foto in Uniform mit ihm gab, das musste nachträglich retuschiert werden. Den Heldentod gestorben, bevor er ein Held werden konnte.
Erst als Teenager erfuhr ich, wie einschneidend der Tod des älteren Bruders an der Ostfront für meinen Vater, die ganze Familie gewesen sein muss. Das Dokument dieses frühen Todes waren der letzte Brief, den meine Großmutter väterlicherseits an Otto geschrieben hatte, ein Foto, ein paar Todesanzeigen und ein weiterer handschriftlicher Brief, der an meinen Großvater gerichtet.

„Sehr geehrter Herr Reifenberg, ich habe heute die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, daß Ihr Sohn Otto, der am 16. Mai 1943 mit einer Verletzung durch Granatsplitter in das Lazarett aufgenommen wurde, am gleichen Tag gestorben ist.“

19. Mai 1943 – Todesnachricht

Ich habe viele solcher Briefe während meiner Recherche gesehen und war erstaunt. All diese Nachrichten über den „Heldentod“, über Pflichterfüllung für Volk und Vaterland und natürlich für den Führer, schrieb jeweils ein vorgesetzter Offizier – mit der Hand. Die Vorstellung, dass sich nach dem unglaublichen Gemetzel einer Schlacht abends jemand hinsetzt und zu Füllhalter und Briefpapier greift und zigfach solche Nachrichten schrieb, war so befremdlich. Aber es musste alles seine Ordnung haben und für die Angehörigen waren diese Briefe von größter Bedeutung. Es war die Möglichkeit, Abschied zu nehmen, beendete die grausame Ungewissheit über das Schicksal des geliebten Sohnes oder Mannes. Und erst damit konnte z. B. die hinterbliebene Witwe ihre Rente einfordern.
Den Brief und die Nachricht überbrachte der Friesenhagener Ortsgruppenleiter der NSDAP, den mein Großvater schon von weitem kommen sah. Er wusste, warum dieser den Weg von Friesenhagen auf sich genommen hatte. Wütend jagte er den Mann vom Hof, beschimpfte ihn und seinen verfluchten Führer. Tage der Angst folgten, ob dieser Ausbruch Konsequenzen haben würde, denn 1943 beschimpfte eigentlich niemand mehr Adolf Hitler, ohne dafür zu büßen. Mein Opa hatte Glück.
Als sogenannter Weißer Jahrgang musste mein Vater nicht in der Wehrmacht dienen und nach dem Krieg auch nicht zur Bundeswehr eingezogen, glücklicherweise, denn seine Ablehnung von allem, was nach Uniform und Gehorsam roch, war groß. Auch für mich, seinen Sohn, gab es gar keinen Zweifel daran, dass ich Wehrdienstverweigerer werden würde. Nicht, weil sich in den 1970er ein klares politisches Bewusstsein entwickelt hätte. Es war vielmehr dieses unheimliche und damals noch nicht definierbare Gefühl, das die Geschichte meines Onkels in mir auslöste, warum für mich nur der Zivildienst in Frage kam.

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